Sierra Nevada (dpa) - Die Avenue de Champs Elysées scheint für Marcel Kittel diesmal in unerreichbare Entfernung gerückt. Zweimal in den vergangenen Jahren hatte der Radprofi auf dem Pariser Prachtboulevard seine fulminanten Tour-de-France-Auftritte mit dem Finalsieg gekrönt. Am 26. Juli sieht es nicht danach aus. Hinter dem Tour-Start des achtfachen Etappensiegers und zweimaligen Träger des Gelben Trikots steht ein dickes Fragezeichen.
Zwar arbeitet der 27 Jahre alte Thüringer im Höhentrainingslager seines Giant-Alpecin-Teams in der Sierra Nevada verbissen an seiner Form. Aber die Zeit wird knapp. Die zweieinhalb Monate Zwangspause nach einer viralen Grippe-Infektion sind schwer zu kompensieren. «Ich sehe nicht alles schwarz. Die Chancen auf einen Tourstart stehen mindestens bei 50:50», sagte Kittel der Deutschen Presse Agentur und schob hinterher: «weil ich Optimist bin».
Aber der Topsprinter ist auch Realist. «Ich komme seit Saisonstart vielleicht auf 14 Renntage, mir fehlt die Rennhärte», sagte der Profi am Wochenende nach der Rückkehr von einer harten Trainingseinheit auf über 2000 Meter Höhe - nicht gerade dem bevorzugten Terrain für Sprinter. Er wolle den Tourstart auch aus Rücksicht auf seine Mannschaft «nicht auf Biegen und Brechen». Nach der am 17. Juni beginnenden ZLM-Toer in den Niederlanden wollen er und die Teamleitung endgültig entscheiden. Die 102. Frankreich-Rundfahrt beginnt am 4. Juli in Utrecht.
«Ich sehe das rational. Ein Start macht ja nur Sinn, wenn ich es bis zum Ende schaffe», sagte Kittel. Theoretisch könnte er sich Chancen auf «den ersten neun Etappen» ausrechnen, «danach wird es superschwer». Die von ihm in den Vorjahren in Frankreich sicher in Schach gehaltenen Mark Cavendish, Peter Sagan oder André Greipel, zuletzt zweifacher Etappensieger bei der Luxemburg-Rundfahrt, sind ihm im Augenblick meilenweit voraus.
Seine «krankentechnisch schlimmste Zeit als Profi» begann zum Jahresbeginn in Australien, wo er sich nach seinem Auftaktsieg im Kriterium am 18. Januar in Adelaide eine folgenschwere Erkältung einhandelte. «Danach bin ich zur Katar-Rundfahrt gefahren, bei der ich kein Bein auf die Erde bekam, und zur Team-Präsentation nach Taiwan. Mir ging's immer schlechter», berichtete Kittel. Die Ärzte schlossen Pfeiffersches Drüsenfieber aus und verordneten Ruhe und nochmals Ruhe.
Kittel konnte «einige Wochen nur leicht trainieren». Das erste kleine Comeback bei der Tour of Yorkshire Anfang Mai ging schief. Dort, wo er zum Tourauftakt 2014 vor einem Millionenpublikum geglänzt hatte, stieg der Topsprinter nach 70 Kilometern aus. Auch bei den anschließenden Ports Cassics in den Niederlanden und Belgien lief es nicht nach Wunsch. Der einstige Terminator fuhr der Konkurrenz hinterher. Jetzt hofft Kittel auf aufmunternde Signale bei «Rund um Köln» am Sonntag und der ZLM-Rundfahrt.
Tour-Triumphe bei Giant-Alpecin sind in der deutschen WorldTour-Mannschaft auch ohne Kittel programmiert. «John ist so gut drauf und hat ein so fantastisches Frühjahr hinter sich. Diese Tour mit vielen mittelschweren Etappen liegt ihm», sagte Kittel an die Adresse seines Teamkollegen John Degenkolb, der Mailand-Sanremo und Paris-Roubaix gewann und endlich den ersten Tour-Etappensieg seiner Karriere anpeilt.