Bibione (dpa) - Auf dem Höhepunkt seiner Radsport-Karriere wird André Greipel zum Schlitzohr - und zum selbstbewussten Siegertypen. «Nicht schlecht für einen Underdog, oder?», fragte Greipel nach seinem dritten Etappensieg beim Giro d'Italia ironisch.
«Aber in den Medien ist doch immer nur von Kittel und Cavendish die Rede», fügte er auf der Pressekonferenz in Bibione noch hinzu, bevor er sich von der 99. Italien-Rundfahrt verabschiedete.
«Es war vor dem Start zum Giro schon so geplant. Es ist keine fehlende Wertschätzung des Giro. Aber ich war in diesem Frühjahr verletzt und hatte Trainingsausfälle. Ich will mich auf die nächsten Höhepunkte vorbereiten», erklärte der 33-Jährige.
Die nächsten Höhepunkte sind die Tour de France und die WM in Katar. Bei der Tour holte er seit seiner ersten Teilnahme dort im Jahr 2011 stets mindestens eine Etappe, im letzten Jahr waren es sogar vier. Beim flachen, aber kräftezehrenden WM-Kurs in Doha gilt er inzwischen als Top-Favorit. Außenseiter - das war einmal. Auch deshalb will Greipel raus aus dem medialen Schatten. Nicht nur auf der Straße fordert er Kittel und Cavendish heraus, er will nun seinen Anteil am medialen Respekt. Mit Recht: Der dritte Tageserfolg bei diesem Giro war sein 20. Etappensieg bei den drei großen Landesrundfahrten. Damit liegt Greipel gleichauf mit dem deutschen Rekordhalter Erik Zabel.
Dem gebürtigen Rostocker haftete lange das Etikett an, nur ein Kraftsprinter zu sein, der ohne den Zug und die Vorarbeit seiner Teamkameraden hilflos ist. Wie sich Greipel in Bibione behauptete, war auch eine Antwort auf die ersten beiden Siege von Marcel Kittel zu Beginn des diesjährigen Giro in den Niederlanden. Denn Kittel hat von Hause aus noch mehr Dampf in den Beinen. «Wenn es zum klassischen Flachsprint kommt, ist Marcel sicher im Vorteil. Wenn ein Finale schwieriger ist oder die Wetterbedingungen ein Rennen anstrengender machen, kann André mit seinem größeren Motor besser zum Zuge kommen», meinte Giant-Profi Nikias Arndt.
Greipel nahm beim Finale erst clever die Rivalen, die sich an seinem Hinterrad versammelt hatten, aus dem Windschatten. «Damit haben sie wohl nicht gerechnet», erklärte er im Ziel mit einem Lächeln. Dem zweitplatzierten Australier Caleb Ewan verwehrte er das Durchschlüpfen am Gitter. Der bezeichnete das als «smart, aber nicht korrekt». Der Etappensieger konterte: «Mit all meiner Erfahrung wusste ich, dass niemand zwischen mir und den Gittern Platz hat. Ich habe einfach meine Linie gehalten.»
Sein australischer Mannschaftsgefährte Adam Hansen würdige diese Cleverness mit einer besonderen Geste. Der 35 Jahre alte Rundfahrt-Routinier legte im Ziel sein Rad zur Seite und kniete nieder, als Greipel an ihm vorbei zum Siegerpodest eskortiert wurde.