Sanremo (dpa) - Auf dem Poggio, der letzten Steigung kurz vor dem Ziel des Frühjahrs-Klassikers Mailand-Sanremo, flatterte eine einsame Deutschlandfahne im Wind. Sicher zu Ehren des verletzt abwesenden Vorjahressiegers John Degenkolb vom Team Giant-Alpecin.
Der traurige Mannschafts-Kapitän hatte die Favoritenstürze von Weltmeister Peter Sagan, Altmeister Fabian Cancellara und den später der Schummelei verdächtigten Überraschungssieger Arnaud Démare via TV erlebt.
«Irgendwie seltsam», fand Rolf Aldag, Ex-Profi und Sportchef des südafrikanischen Dimension-Data-Teams, den Ausgang der 107. Auflage der 295 Kilometer langen «Classicissima». Damit meinte er nicht die am Sonntag erhobenen Vorwürfe gegen den Sieger, der sich von seinem Begleitfahrzeug angeblich hat ziehen lassen.
Der nach seinem Horror-Crash vom Januar zur Untätigkeit verurteilte Degenkolb hat gerade wieder mit dem Training begonnen. Sein Teamchef Iwan Spekenbrink ist zuversichtlich, dass der 27 Jahre alte Radprofi rechtzeitig zur Tour de France wieder «der Alte» ist. «Ich bin optimistisch, dass er bis dahin die nötige Form hat - ich bin allerdings kein medizinischer Spezialist», sagte der Niederländer der Deutschen Presse-Agentur.
Die Vertragsverhandlungen mit seinem lädierten Star sind im Gange. «Wir sind zufrieden mit ihm und er fühlt sich bei uns wohl, aber jetzt sind erst einmal andere Dinge wichtiger», erklärte Spekenbrink, der sich vor Saisonbeginn von Topsprinter Marcel Kittel unter vernehmlichem Theaterdonner getrennt hatte. Degenkolbs Kontrakt läuft zum Jahresende aus.
Die lange Zwangspause für Degenkolb müsste nicht unbedingt von Nachteil sein, meinte Aldag. «Entscheidend wird sein, wie er den Unfall mental wegsteckt. Auf jeden Fall dürfte er im Juli zur Tour ausgeruhter als die meisten Konkurrenten sein. Im Januar 1998 hatte ich mir bei einem ähnlichen Unfall den Oberschenkelhals und das Schlüsselbein gebrochen und hatte bei der Tour wieder locker meine Form», erzählte Sanremo-Spezialist Aldag.
Die aktuelle Ausgabe des sonnigen Klassikers Mailand-Sanremo hatte mindestens zwei Besonderheiten: Den Außenseitersieg von Démare, der 21 Jahre nach Laurent Jalabert wieder für einen französischen Erfolg auf der Via Roma sorgte und einen furchterregenden Erdrutsch 130 Kilometer nach dem Start. Am Sonntag sorgten Vorwürfe gegen Démare, der sich nach einem Sturz auf der Cipressa 30 Kilometer vor dem Ziel angeblich unerlaubte Hilfe vom Begleitwagen geholt hatte, für Wirbel. Zwei Konkurrenten bezeugten laut «Gazzetta dello Sport» die Schummelei. Der Jury-Chef Hervé Brocque, und das ist wohl entscheidend, hatte nichts bemerkt und gemeldet.
Am Renntag hatten Polizei und Veranstalter bei dem Erdrutsch schnell reagiert und leiteten die Fahrer rechtzeitig über die Autobahn A 10 um. Riesige Felsbrocken hatten bei Arenzano die Straße blockiert und parkende Autos unter sich begraben. Menschen kamen nicht zu Schaden. «Die Umleitung war kein Problem, wir hatten ja noch eine weite Strecke bis zum Ziel», erklärte Aldag.
Im Ziel hatte der ins Zwielicht geratene Démare die Fahrer-Prominenz vor den Augen des siebenfachen Mailand-Sanremo-Siegers Eddy Merckx düpiert: Wütend warf Fabian Cancellara die gefüllte Trinkflasche mit voller Wucht und Wut in den Rinnstein. Nur zu gern hätte der 35 Jahre alte Schweizer bei seinem letzten Mailand-Sanremo - nach dieser Saison beendet er seine Karriere - wie 2008 noch einmal triumphiert. Ein Ausreißversuch 1600 Meter vor dem Ziel blieb - anders als vor acht Jahren - aber erfolglos.
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