Pau (dpa) - Sonntag, 27. Juli 1997, 17:37 Uhr: Mit dem Tour-Sieg des 23-jährigen Jan Ullrich auf den Pariser Champs Elysées beginnt für die deutschen Sportfans eine neue Zeitrechnung.
Sein Erfolg vor zehn Jahren, der erste eines deutschen Radprofis im größten Rennen der Welt, begründete seinen Aufstieg zum viel geliebten und gehätschelten Idol. Dieses Gütesiegel existiert in Zusammenhang mit dem Namen Ullrich längst nicht mehr. Die 93. Tour de France, zu der er nicht mehr antreten durfte, hatte im Vorjahr den Schlusspunkt einer elfjährigen Karriere markiert, die den Radsport in Deutschland in neue Dimensionen katapultiert hatte.
«Was mir spontan einfällt: Die Ehrung in Paris durch den französischen Präsidenten und andere wichtige Leute, und die vielen Schmerzen», sagte Rolf Aldag genau zehn Jahre danach. Früher war der Westfale, inzwischen Doping-geständig, gerade was die 90er Jahre betrifft, Ullrichs treuer Helfer. Heute ist er als T-Mobile-Teamchef auch sein Kritiker. «Ich war damals nicht irgendwie Rad-verrückt. Ich war wahrscheinlich gerade auf dem Fußball-Platz», lautete Linus Gerdemanns Ullrich-Rückblick. Der 24-jährige Etappensieger von Le Grand Bornand und Träger des Gelben Trikots für einen Tag ist auf dem Weg zum neuen deutschen Rad-Idol - wenn auch in anderen Größenordnungen als von Ullrich bekannt.
Ullrichs Absturz hatte viele Blauäugige verschreckt, aber gänzlich überraschend traf er die belastete Branche kaum. Sein engster Kreis, sein Sponsor, die Teamleitung, Teile der Medien mussten sich einreihen lassen in die Gruppe der Arglosen. Ullrich spielte einst in einer Liga mit Franz Beckenbauer und Boris Becker. Die ARD, lange Jahre Mit-Sponsor des Ullrich-Teams mit Logo auf dem Trikot, hatte es stets vermieden, unbequeme Fragen zu stellen. Die sympathische, freundliche Figur mit den Sommersprossen stand vielen gut zu Gesicht.
Seit seinem unrühmlichen Abgang aus Straßburg am 30. Juni 2006 durch die Suspendierung ist der 33-Jährige nur noch durch eher bizarre Auftritte in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten: Rücktritt im Februar mit ausgiebiger Presse-Schelte, hilflose Rechtfertigungs-Versuche bei «Beckmann» und in anderen Medien, und immer wieder leugnen, leugnen, leugnen - Ullrich hat Doping bislang state abgestritten - trotz erfolgten DNA-Abgleichs mit seinem Blut aus der Blutbank des Doping-Doktors Eufemiano Fuentes.
Der in Rostock geborene Ex-Radprofi, inzwischen Wahl-Schweizer, mag zwar finanziell ausgesorgt haben. Aber nicht nur viele geständige Arbeits-Kollegen rieten für den Seelenfrieden zum rigorosen Outing. Der Goldmedaillengewinner von Sydney, Toursieger, zweifache Zeitfahr- Weltmeister und Tour de Suisse-Sieger zieht sich aber weiter hinter seine Advokaten zurück. Bisher hat er seine Deckung noch nicht verlassen. Vielleicht bringen ihn möglicherweise bevorstehende Prozesse wegen Betrugs und Falschaussage zum Reden. Aber auch eine hundertprozentige Kehrtwende dürfte ihm keiner mehr abnehmen. Die Chance als reuiger Sünder wieder Gnade zu finden, hat er längst vertan.