Paris (dpa) - Der Zweite sagte: «Das ist ein Sieg für mich». Und dann kündigte Jan Ullrich Lance Armstrong für 2004 trotzig einen entscheidenden Angriff auf den Thron an - so, als hätte ihm die diesjährige Tour de France lediglich zum Warmfahren gedient.
«Jetzt erst recht, Lance muss sich warm anziehen», sagte Ullrich nach dem Zeitfahren von Nantes, bei dem Lance Armstrong den Olympiasieger zum dritten Mal nach 2000 und 2001 beim bedeutendsten Radrennen der Welt auf den zweiten Rang verwiesen hatte. Auch Bianchi-Teamchef Rudy Pevenage nahm das langfristige Ziel ins Visier: «Ich will mit Jan noch ein Mal die Tour gewinnen - am besten nächstes Jahr.»
Ullrichs Blickrichtung Tour 2004 hatte nichts mit aktueller Verdrängung zu tun, obwohl ihm durch einen Sturz 12 km vor Nantes der zweite diesjährige Etappensieg zur Krönung seines sensationellen Tour-Comebacks entgangen war. «Schon vor dem Sturz war klar, dass ich Lance am erneuten Toursieg nicht hätte hindern können», sagte Ullrich, dem die Fachwelt dieses Aufbäumen gegen Armstrong nach 14 monatiger Zwangspause mit Tiefs am laufenden Band nicht zugetraut hätte.
Auch wenn Eddy Merckx mäkelte: «Jan war stark, aber doch nicht schnell genug. Auf der ersten Pyrenäen-Etappe hätte er aus seiner Überlegenheit mehr machen müssen.» Altmeister Laurent Jalabert kritisierte Ullrich, dass er die Regen nasse Strecke des Zeitfahrens im Gegensatz zu Armstrong nicht inspiziert und sich stattdessen mit einem Video zufrieden gegeben hatte. Außerdem hätte er sein Material - zum ersten Mal fuhr er ein Vier-Speichen-Vorderrad - nicht beherrscht.
Die Tour braucht Jan Ullrich und er braucht sie. «Er hat begriffen, dass er nichts so gut kann wie Radfahren», begründete Pevenage den Wandel vom manchmal etwas schlampigen Genie zum professionellen Champion. So gut vorbereitet wie diesmal stellte sich Ullrich zum ersten Mal seit 1997 wieder in Frankreich vor. Äußeres Zeichen: Der gebürtige Rostocker, in der Vergangenheit manchmal ein Pummelchen, wirkt so asketisch wie zuletzt bei seinem Olympiasieg 2000 in Sydney.
Tour-Chef Jean-Marie Leblanc tat gut daran, Ullrich und seinem erst vor knapp zehn Wochen aus dem Boden gestampften Team den Weg zur Tour zu ebnen. Die pompöse Geburtstags-Tour war die spannendste seit 1989, als der dreifache Toursieger Greg LeMond als erster Amerikaner Paris eroberte und dem Franzosen Laurent Fignon im letzten Zeitfahren den Sieg noch mit acht Sekunden Vorsprung entriss. An diesem besonderen Nervenkitzel hatte Ullrich, der bei sechs Tour-Teilnahmen zum fünften Mal zweiter wurde, großen Anteil.
Aber der gebürtige Rostocker, der so locker und selbstbewusst wirkt wie nie, punktete nicht nur durch sportlich annähernde Ebenbürtigkeit mit dem fünffachen Toursieger. Die Drosselung seines Tempos beim Schlussanstieg nach Luz Ardiden als Reaktion auf den Armstrong-Sturz brachte ihm weltweit Sympathie-Punkte ein für Ritterlichkeit. Nach 23 Tour-Tagen im Super-Stress war Jan Ullrich, der sich bei seinem Sturz mit Tempo 50 nur leichte Verletzungen an Arm und Hüfte zugezogen hatte, auch als Familienmensch gefragt: Auf den Champs Elysées erwartete ihn seine Lebensgefährtin Gaby mit der gemeinsamen Tochter Sarah Maria, die vier Tage vor der Tour geboren wurde.