Berlin (dpa) - Der Fahrer im Gelben Trikot - Gesicht verzerrt, starrer Blick - kämpft sich verbissen den Berg hoch. Über dem ganzseitigen, farbigen Titelbild prangt die Überschrift: «Die Armstrong-Lüge».
So titelte die französische Sportzeitung «L'Équipe» in dicken Lettern am 24. August 2005. Lance Armstrongs historischer siebenter Toursieg in Serie mit anschließendem Rücktritt - verziert mit einer gehörigen Portion Pathos - lag gerade einmal einen Monat zurück.
«L'Équipe»-Redakteure hatten mit einem Trick die Codenummern der anonymen Doping-Kontroll-Protokolle im Labor Chatenay-Malabry geknackt. Im WADA-Auftrag hatte das renommierte Institut sechs Jahre nach der Tour 1999 - inzwischen war die Wissenschaft so weit - eingefrorene Urin-Proben analysiert. Ergebnis: Spuren des Blut- Dopingmittels EPO in sechs Proben. Die Zeitung schlussfolgerte ein Drei-Phasen-Doping durch Armstrong bei seinem ersten Toursieg: Vor dem Start für einen starken Prolog, vor der 9. und 10. Etappe in den Alpen und vor den Pyrenäen.
Armstrong war wissenschaftlich überführt, bei seinem ersten Toursieg kräftig mit Chemie nachgeholfen zu haben. Der Mythos des geheilten Krebspatienten, der das unbarmherzigste Radrennen der Welt zwei Jahre nach seiner Diagnose und 12 Monate nach der Festina- Doping-Affäre gewann, war mit einem Schlag zerstört. Frankreich hatte den nicht sehr geliebten Amerikaner quasi mit einem Fußtritt aus den Annalen des nationalen Heiligtums Tour de France gekickt. Zeitungen schrieben vom «wahrscheinlich größten Sport-Betrug der Geschichte».
Aber der Texaner wehrte sich, bestritt und bestreitet weiter, je gedopt zu haben und entging sportjuristischen Konsequenzen mit einem schlichten Verweis auf die Statuten der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA: Ohne positive B-Probe keine Anklage. Die sechs nachträglich geöffneten Fläschchen waren Armstrongs B-Proben des Jahres 1999 - die A-Proben waren damals, dem Stand der Wissenschaft folgend, negativ.
Den Tritt der Gastgeber - die «L'Équipe» erscheint im Verlag des Tour-Veranstalters ASO - hat der inzwischen 37-jährige Texaner nie verschmerzt. Trotzdem meldet er sich vier Jahre später zurück. Entweder, um zu beweisen, dass er von unbändigem Erfolgshunger inzwischen genesen und sogar imstande ist, seinem Team-Kollegen Alberto Contador selbstlos zu dessen zweitem Tour-Triumph zu verhelfen. Oder, um zu zeigen, dass er auch unter härtesten, heutigen Kontroll-Mechanismen - so wirksam sie auch sein mögen - noch immer eine Tour gewinnen kann.
Wäre es nach Pierre Bordry, dem Chef der Französischen Anti- Doping-Agentur AFLD oder dem bis zum Vorjahr regierenden Tour- Direktor Patrice Clerc gegangen, hätte Armstrong zu Hause bleiben können. Die Erkenntnisse von 2005 hätten für immer die Rote Tour- Karte bedeutet. Aber ein Wechsel auf den Führungs- und Kompetenz- Ebenen ließ die ökonomischen Überlegungen des Produktes Tour de France wieder deutlich in den Vordergrund treten.
Die immer noch und trotz vieler Doping-Vorwürfe funktionierende Anziehungskraft der Marke Armstrong belegte gerade der Giro d'Italia mit Rekord-Einschaltquoten im TV und Zuschauer-Massen an den Straßen. Davon wollte auch die Amaury-Sport-Organisation ASO profitieren.
Armstrong sprach nach den Ermittlungen vor vier Jahren von einer «Hexenjagd», die einem Unschuldigen gegolten hätte. Dazu erklärte Bordry: «Ich habe absolut keinen Grund an Armstrongs Worten zu zweifeln», und bot ihm vor dem Start am Samstag in Monte Carlo einen weiteren Nach-Test der Proben von 1999 an. Armstrong lehnte ab.