Toulouse (dpa) - Die französische Presse schwärmte schon fast wieder so überschwänglich wie 1997. «Die Rückkehr des Wunderkindes», titelte die «L'Equipe» über einem ganzseitigen Bild des Helden, nachdem Jan Ullrich die Konkurrenz, einschließlich Lance Armstrong, beim 47 km-Zeitfahren «zermalmt» hatte, wie «Le Figaro» eher ungewohnt martialisch registrierte.
Plötzlich ist Jan Ullrich aus eigener Kraft nach zwei Knieoperationen, Führerschein-Entzug, Doping-Sperre und 14 Monaten Rennpause wieder ganz groß. Vor genau einem Jahr bei seiner im Fernsehen live übertragenen «Drogen-Beichte» fühlte er sich ganz klein.
Das Wunder von Cap Découverte, wo Ullrich den ersten Tagessieg bei der Tour seit fünf Jahren gefeiert hatte, beging der viel Gelobte und Umschwärmte im bescheidenen Rahmen in seinem Hotel eine Mini-Feier. Am Abend gab es mit der Mannschaft, die sechs Wochen vor der Tour aus der Konkursmasse des Essener Coast-Mannschaft zusammengestückelt worden war, ein Glas Champagner. Danach ging es um 21.30 Uhr ins Bett, denn «jetzt ist bei der Tour alles möglich», sagte Ullrich.
Damit meint er das, was vor Tour-Beginn kaum einer laut zu sagen wagte. Obwohl der vierfache Tour-Sieger Armstrong mit 34 Sekunden Vorsprung in die Pyrenäen ging, ist der deutsche Olympiasieger, der den Texaner auch in Sydney im Zeitfahren und auf der Straße bezwang, plötzlich Favorit auf den Tour-Triumph. «Jan oder ich können die Tour gewinnen», sagte sein alter Team-Kollege und Freund Alexander Winokurow (Kasachstan), neben Ullrich zur Zeit die zweite große Tour- Überraschung. Schon in Sydney hatten sie gemeinsam erfolgreich Armstrong bekämpft. Die Allianz in den Pyrenäen ist programmiert.
«Jan ist jetzt meine Nummer 1 für den Tour-Sieg. Wenn es bei ihm im Zeitfahren läuft, wird er auch auf jedem anderen Terrain marschieren. Ich glaube nicht an einen möglichen Leistungseinbruch», sagte Ullrichs alter Teamchef Walter Godefroot, dem der gebürtige Rostocker Ende 2002 zusammen mit Rudy Pevenage den Rücken gekehrt hatte. Seitdem ist mit dem einstigen Problem-Boy, dem bei Telekom ein «Babysitter-System» allen Ärger vom Hals halten sollte und eigentlich fast zur Entmündigung führte, viel passiert.
Was der vier Tage vor Tour-Beginn zum ersten Mal Vater gewordene Ullrich mit «ich bin reifer geworden» umschreibt, hat viele Facetten. Er hat sein Training umgestellt und sich damit gleichzeitig immer mehr von seinem alten Betreuer und Vertrauten aus DDR-Zeiten, Peter Becker, abgenabelt. Im neuen Bianchi-Team lebt er viel von der Improvisation. Nichts erinnert an den reibungslosen Mechanismus der perfekt funktionierenden Telekom-Mannschaft. Das färbt offensichtlich auf Ullrich ab. Er wirkt lockerer und selbstbewusster denn je, und das hat weniger mit seinem aktuellen Tour-Erfolg zu tun.
Improvisations-Talent der Teamleitung war vielleicht auch mit ausschlaggebend für den unerwartet deutlichen Erfolg Ullrichs in seiner Spezialdisziplin. Obwohl er die Hitze im Gegensatz zu Armstrong liebt, wurde für ihn zum Warmfahren auf der Rolle kurzerhand ein klimatisierter Raum angemietet. Ullrich strampelte - ganz passend - zwischen vielen von der Decke hängenden Rädern in einem Fahrrad-Fachgeschäft bei etwa 20 Grad. Draußen war das Thermometer am Startort in Gaillac auf 38 Grad im Schatten geklettert und ließ den «Thron von Armstrong wackeln», wie die «L'Equipe» schrieb.