Montpellier (dpa) - Er fackelte nicht lange, nahm der Konkurrenz bei erster Gelegenheit den Wind aus den Segeln - und legte nach: Mark Cavendish will seinen Höhenflug bei der Tour de France, den er im Vorjahr mit vier Erfolgen auf 15 Etappen begann, in ungeahnte Weiten fortsetzen.
«Das war nur der Anfang», titelte die «L'Équipe», nachdem der 24 Jahre alte Brite am Vortag in Brignoles den Massensprint mühelos gewonnen hatte und sich zum ersten Mal in seinem Leben das Grüne Trikot überstreifen durfte. Die Zeitung behielt Recht, in La Grande Motte gewann er zum zweiten Mal in 24 Stunden.
Mindestens genauso wie der «Racer Boy» (Titel des gerade erschienenen Buches über Cavendish) freute sich sein Lehrmeister Erik Zabel, der als sechsmaliger Gewinner der Punktwertung immer noch als Rekordhalter in den Tour-Annalen steht. Als Cavendish im Ziel in Brignoles alle acht Team-Kollegen geherzt hatte, bedankte sich der Columbia-Kapitän artig bei Zabel, der nach seinem Rücktritt im Vorjahr als «Berater» ins Columbia-HTC-Team an die Seite seines alten Kumpels Rolf Aldag gewechselt war. Im Radsport halten alte Bande manchmal ewig.
«Erik war in seiner Generation der Sprinter mit der größten Konstanz. Ich bin sehr dankbar, einen so erfahrenen Mann an meiner Seite zu haben. Ihm habe ich auch meinen diesjährigen Sieg bei Mailand-San Remo zu verdanken», sagte Cavendish, der Zabel in seinem letzten aktiven Jahr 2008 sozusagen in Rente geschickt hatte, nach seinem ersten Coup. Bei der Tour im Vorjahr sah der zwölffache Tour- Etappensieger Zabel - wie die Konkurrenz - meist nur das Hinterrad des pfeilschnellen Briten, der mit Millionen des neuen englischen Sky-Teams zurück auf die Insel gelockt werden soll.
An seine Erfolgs-Quote in diesem Jahr wagen Politiker nicht mal in ihren kühnsten Träumen zu denken: Cavendish gewann 83 Prozent seiner ersten 18 Sprints, darunter drei Etappen beim Giro d'Italia und zwei bei der Tour de Suisse. Er steigerte seine Rate von 42 Prozent 2007 über 50 Prozent 2008 auf den aktuellen Fabelwert. Bei der Tour will er möglichst seine Traummarke vom Vorjahr noch steigern und zum ersten Mal Paris erreichen - und das am besten im Grünen Trikot.
«Da dürften Oscar Freire und Thor Hushovd seine größten Konkurrenten sein», glaubt Zabel. Heinrich Haussler, der Cavendish in San Remo um Zentimeter unterlag, traut er dagegen den Sieg in der Punktwertung aus taktischen Gründen nicht zu: «Cervélo wird alles auf Hushovd setzen.» Auch Milram-Kapitän Gerald Ciolek, am Sonntag in Brignoles Sechster, rechnet sich Chancen aus. Anders als Cavendish wird er auch versuchen, «bei jedem Zwischensprint Punkte zu sammeln».
Cavendish (Zabel: «Er ist phänomenal») soll sich nicht verzetteln. «Mark soll sich auf Etappensiege konzentrieren. Dann ist das Trikot die logische Folge», erklärte Team-Besitzer Bob Stapleton, der allen Interessenten an seinem «Überflieger» einen Korb gab. «Er hat bei uns einen Vertrag bis 2011 und wir sind nicht beim Fußball.» Allerdings gibt es einen Punkt, bei dem auch der US-Milliardär immer wieder schwach wird. Legendär ist sein Verhandlungsgeschick beim vorzeitigen T-Mobile-Ausstieg 2007. Das Adieu ließen sich die Bonner bei noch bestehenden Verträgen mehr als 25 Millionen Euro kosten.
Die Briten des Satelliten-TV-Senders Sky haben angeblich 33 Millionen Euro zur Verfügung, um ihr Prestige-Projekt - ein Profiteam der Extra-Klasse - zwei Jahre vor den Olympischen Spielen in London auf die Beine zu stellen. Bei solchen Summen dürfte Linus Gerdemann Schwindelanfälle bekommen. Der heutige Milram-Kapitän bekam im Vorjahr die vorzeitige Wechsel-Genehmigung von Stapleton.