Stuttgart (dpa) - Der Radsport hat die Kurve nicht gekriegt. Nach der Chaos-Tour im Juli hätte sich die Stuttgarter WM-Bühne angeboten, eine glaubhafte Kursänderung in der Doping-Politik vorzuführen.
Aber die «schwäbische Kehrwoche» fand nicht statt - die Funktionäre treten weiter auf der Stelle. Die nächste große Möglichkeit zur Blamage bietet sich am 22./23. Oktober beim großen Anti-Doping-Gipfel in Paris und zwei Tage später bei der Präsentation der Tour de France 2008. «Der Radsport hat ein riesiges Strukturproblem. Er ist eine Skandalnudel und die Verbände sind Skandalnudeln», sagte ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender der «Stuttgarter Zeitung».
«Es ist enttäuschend, dass der Sport gar nicht im Mittelpunkt stand, und die Chance auf einen glaubwürdigen Neuanfang so leichtfertig von den Verbänden vergeben wurde», pflichtete ihm WM-Organisationschefin Susanne Eisenmann bei, die ihrerseits im Zentrum der Kritik der arrivierten Funktionäre stand. Weltverbands-Präsident Pat McQuaid warf ihr «persönliche politische Profilierung und wirtschaftliche Interessen» vor und stellte Stuttgart ein denkbar schlechtes Zeugnis als Gastgeber aus.
Dabei sollten die Weltmeisterschaften in Stuttgart ein Meilenstein auf dem Weg zum allseits propagierten «Neuanfang» werden. Doch das scheiterte schon an der Einladungs-Praktik. Obwohl die ersten drei der Titelkämpfe von Salzburg eigentlich auf dem Index stehen, hielten sie auch die WM zwölf Monate später in Atem: Paolo Bettini, Erik Zabel und Alejandro Valverde aktivierten Politiker, Juristen und die Entscheidungsträger der Verbände, um ihr Startrecht durchzudrücken.
Alle Beteiligten haben durch die Erkenntnisse der Doping-Affäre Fuentes, durch Geständnisse, Verurteilungen und den Rückzug von Sponsoren nichts gelernt. «Es werden sicher Fahrer bei der WM am Start sein, die voll sind», sagte der WM-Fünfte im Zeitfahren, Sebastian Lang, und wähnte damit auch die WM Doping-belastet.
Gerichtsprozesse, Klage-Drohungen, neue Doping-Enthüllungen, Querelen um zweifelhafte Ehrenerklärungen der Profis, heftige Wortgefechte zwischen Politikern und Funktionären und Schuldzuweisungen der Fahrer untereinander kennzeichneten die Stimmung beim eigentlichen Jahres-Höhepunkt des Welt-Radsports. Dabei hatte WM-Schirmherrin und Bundeskanzlerin Angela Merkel im offiziellen Programmheft noch an alle Mitwirkenden appelliert: «Verhalten Sie sich fair gegenüber ihren Mitbewerbern, dem Publikum und allen übrigen Beteiligten. Achten Sie die Anti- Doping-Bestimmungen.»
Für den Sportrecht-Experten Christoph Schickhardt sind McQuaid und BDR-Präsident Rudolf Scharping mitverantwortlich für die Misere des Radsports. «Die Funktionäre sind Teil des Problems», sagte der Anwalt am Sonntag im ZDF. Er traue Scharping nicht zu, die Politik des umstrittenen Dachverbandes UCI beeinflussen zu können, betonte Schickhardt, der viele Fußball-Bundesligisten rechtlich vertritt.
Dabei sollte alles besser werden. Die WM-Veranstalter hatten vor den Titelkämpfen vollmundig das «umfangreichste Kontrollprogramm» in der Geschichte des Radsports angekündigt. Mehr als 200 Dopingtests gab es vor dem WM-Start, im Vergleich zu den Wettkämpfen in Salzburg wurde die Zahl der Doping-Tests vor und nach den Rennen auf rund 130 verdoppelt. Doch dass - bisher - kein einziger Athlet während der WM positiv auf Doping getestet wurde, ging in den Stuttgarter Chaostagen unter.
Dafür ging das Spiel «Jeder klagt gegen Jeden» weiter. Der italienische Titelverteidiger Paolo Bettini kündigte wegen einer «Verleumdungskampagne» eine Klage gegen Stuttgart, das WM-Organisationskomitee und das ZDF an. Die WM-Stadt wiederum behielt sich wegen eines erwarteten Verlustes von «700 000 bis eine Million Euro» eine Schadenersatzklage gegen die UCI vor. Der Weltverband will seinerseits die «nötigen Schritte» einleiten, um von den Stuttgartern zurückgehaltene Gelder von 600 000 Euro zu erhalten.