Hautacam (dpa) - Misstrauen ist der ständige Begleiter von Riccardo Ricco. Die aggressive Fahrweise der «Kobra» bei der 95. Tour de France lähmt die Konkurrenz - und nährt Zweifel.
Seit dem Start musste das italienische Leichtgewicht (59 Kilogramm) schon sieben Doping-Kontrollen über sich ergehen lassen und Verdachtsmomente kommentieren. Die «L'Équipe» rechnete Ricco zu jenen fünf Fahrern, deren bisher ermittelte Werte erhebliche Auffälligkeiten aufwiesen. «Mein Hämatokritwert liegt von Kindesbeinen an über der Norm, wie bei manch anderen Fahrern auch. Das hat genetische Ursachen und ist bei der UCI dokumentiert. Ich habe nichts zu befürchten», sagte der 24-jährige Italiener nach seinem zweiten Etappensieg in Bagnères-de- Bigorre, wo er sich über «ungerechtfertigte Polemiken» beschwerte.
Auf seinem Triumphzug hatte Ricco im Stil seines großen Vorbildes Marco Pantani die Konkurrenz 28 Kilometer vor dem Ziel 3000 Meter vor dem Gipfel des Aspin wie Nachwuchsfahrer stehen lassen. Zu seinen Opfern zählte auch Sebastian Lang, der auf der ersten Pyrenäen-Etappe fast 200 Kilometer allein an der Spitze gefahren war und dann 1000 Meter vor der Bergwertung des Aspin nur noch mit dem Kopf schütteln konnte, als ihn Ricco in rasendem Tempo überholte. «Er war so schnell vorbei - keine Ahnung», waren die ersten Worte des ausgepumpten Erfurters im Ziel.
«Solange keine Beweise auf dem Tisch liegen, muss für ihn die Unschuldsvermutung gelten. Aber mal sehen, was noch kommt», meinte Lang vieldeutig. Sein Arbeits-Kollege vom Team Gerolsteiner, Fabian Wegmann, kam atemlos ins Ziel und wollte Genaueres über den Vorsprung des Italieners wissen: «Wie viel hat er denn gehabt?» Antwort von Bernhard Kohl: «1:17 Minuten». Ungläubige Reaktion des deutschen Doppelmeisters aus Freiburg: «Bei dem Gegenwind?» Sicherheitshalber nahm die französische Anti-Doping-Agentur AFLD auch eine Haarprobe von Ricco.
Der diesjährige Giro-Zweite Ricco, dessen Stern im Vorjahr aufging, ist kein unbeschriebenes Blatt. Im Mai 2007 gehörte der potenzielle Pantani-Nachfolger bei der Italien-Rundfahrt zu jenen Fahrern um den Gesamtsieger Danilo di Luca, die bei einer überraschenden Kontrolle am Abend nach der «Königsetappe» Hormonwerte aufwiesen, wie sie zu einem Kleinkind gepasst hätten. Die Disziplinar-Kommission des Italienischen Olympischen Komitees CONI, das auch bei den Etappen in Italien in der letzten Tourwoche Assistenz bei den Doping-Kontrollen leisten wird, ermittelte und forderte Sanktionen. Doch der Weltverband UCI sah sportrechtlich keine Handhabe, zumal Mediziner-Gutachten nicht eindeutig waren.
Im sportlichen Auftritt erinnert die «Kobra» an den «Piraten» Pantani, der 1998 vor Jan Ullrich die Tour als letzter Italiener gewann. Am 14. Februar 2004 starb er vereinsamt in einem Hotelzimmer in Rimini an einer Überdosis Kokain. Der nicht gerade für vornehme Zurückhaltung bekannte Ricco («Ich bin beeindruckt von mir») will sich bei der Tour «erst im nächsten Jahr um das Gesamtklassement kümmern». Als er das am Sonntag sagte, drehte er sich zu seinem Teamchef um und lachte lauthals. Vielleicht plant Ricco, der bei der Sieger-Pressekonferenz gelangweilt SMS in sein Handy hackte, schon in diesem Jahr viel mehr als nur Etappensiege im Hochgebirge.
«Der Biss der Kobra», titelte die «L'Équipe» am französischen Nationalfeiertag und umschrieb die Gefährlichkeit des jungen Mannes mit den dünnen Beinen und den Sommersprossen. Auch Pantani wurde vor zehn Jahren als purer Bergfahrer von den Favoriten lange nicht ernst genommen und hatte sich dann durch überragende Gala-Vorstellungen im Gebirge an der Spitze des Gesamtklassements festgesetzt. Dort brachte ihn auch kein Zeitfahren mehr weg. Die Causa Ricco verspricht - so oder so - weiter Spannung.