La Grande-Motte (dpa) - Für die späteren Toursieger Laurent Fignon, Greg LeMond und Alberto Contador war es der erste Schritt auf der steilen Karriereleiter. Das Weiße Trikot ist so etwas wie die Urkunde für die Gesellenprüfung bei der Tour de France. Tony Martin hat sie und mit Bravour bestanden.
Mit dem Überraschungs-Angriff seines Columbia-Teams in der Schlussphase der 3. Etappe holte sich der 24-Jährige die Führung in der Nachwuchswertung der Fahrer bis 25 vom Tschechen Roman Kreuziger. Der in Cottbus geborene Martin, der mit seinen Eltern kurz vor Maueröffnung im Alter von vier Jahren nach Eschborn in Hessen floh, war außer sich vor Freude und kassierte höchstes Lob von allen Seiten. «Die Tour kann jetzt für mich nicht mehr schlecht werden - egal, was passiert», sagte der Debütant, der sich das Trikot - weiß wie die Unschuld - eigentlich erst beim Team-Zeitfahren in Montpellier holen wollte.
Es sei eine Ehre für ihn, «für die Hoffnung des deutschen Radsports» zu stehen, sagte Martin, den Vergleiche mit dem durch die drohende Sperre des Schweizer Verbandes gerade wieder in die Schlagzeilen geratenen Ullrich inzwischen langweilen. Er weiß um die Gefahr, der Euphorie freien Lauf zu lassen. «Ich will das alles nicht zu nah an mich ranlassen», lautet sein Rezept in Zeiten der einsetzenden Jubelarien. Außerdem dämpfte er die Erwartungen der Fans zu Hause: «Deutschland sollte sich nicht zu große Hoffnungen machen, dass ich das Trikot bis Paris tragen kann.» Sein Teamleiter Rolf Aldag, der den Ullrich-Hype als Aktiver miterlebt hat, empfahl seinem Hoffnungsträger nach dem Coup vom Montag in La Grande-Motte: «Er sollte nicht zu viele deutsche Zeitungen lesen».
Der im Vorjahr als großes Zeitfahr-Talent in die Profibranche gestartete Martin machte bereits im Juni bei der Tour de Suisse in großem Stil von sich reden: Platz zwei im Gesamtklassement hinter Fabian Cancellara, - dort lag er nach der dritten Etappe auch bei der Tour in Frankreich - Sieger der Bergwertung und Gewinner der Bergetappe nach Crans Montana ließen aufhorchen. Blitzschnell war aus dem ausgebildeten Polizeimeister der Senkrechtstarter der Branche geworden, die gerade in Deutschland so sehr auf bessere Nachrichten wartet. Aldag verwendet viel Energie darauf, «den externen Druck, der jetzt auf Tony lastet, intern zu mindern». Bei seiner ersten Tour soll er «nur lernen».
Martin war für seinen Teamleiter trotz des zweiten Tageserfolges des britischen «Turboladers» Mark Cavendish «der Mann der Etappe», der «Motor der Spitzengruppe». Nach den 196 Kilometern saß der neue Mann in Weiß minutenlang auf dem Bürgersteig und war völlig fertig. Auch in den Pyrenäen ist einiges zu erwarten von Martin, der die enorme Verbesserung seiner Kletterkünste einem Tour-Trainingslager in Andorra kurz vor dem Start der für ihn so glänzend verlaufenen Rundfahrt durch die Schweiz zuschreibt: «Danach habe ich einen Sprung gemacht.» Dazu kam eine merkliche Gewichtsreduzierung. Bei 1,86 Meter Körpergröße bringt Martin 76 Kilo auf die Waage, «zwei bis drei Kilo weniger als voriges Jahr».