Hesselberg (dpa) - Der entthronte Titelverteidiger Jens Voigt ließ es sich nicht nehmen, seinen Freund Linus Gerdemann zum neuen Herrscher auszurufen.
«Der König ist tot, es lebe der König», sagte der Berliner, nachdem Gerdemann auf der Königsetappe der Deutschland-Tour die Regentschaft übernommen hatte. Mit seinem Solo-Sieg hinauf auf die 1463 Meter hohe Skistation Hochfügen avancierte der 25 Jahre alte Radprofi vom Columbia-Team zum Top-Favoriten auf den Gesamtsieg, Voigt muss nach nach seinem bitteren Einbruch hingegen bereits alle Hattrick-Ambitionen abschreiben. «Wir erleben hier einen Generationswechsel», meinte der 36-jährige Voigt, der im Ziel einen Rückstand von 8:48 Minuten auf Gerdemann hatte.
Dabei konnte die Konkurrenz noch froh sein, dass ihr der Münsteraner im Kampf ums Gelbe Trikot nicht noch weiter enteilte. Bereits vier Kilometer nach Beginn des Schlussanstiegs verfing sich Gerdemanns Funkgerät am hinteren Kettenblatt. Wie mit einer «springenden Kette» musste der 25-Jährige die letzten Kilometer «im Tuckergang» bewältigen. «Ich dachte, dieses Jahr ist der Fluch drin. Da habe ich zwischen 30 Sekunden und einer Minute liegen lassen», meinte Gerdemann, der ohne dieses Malheur dem Gesamtsieg schon sehr nahe gekommen wäre. «Da hätte ich den Sack fast schon zumachen können.» So aber lag er vor der 2. Etappe nur 17 beziehungsweise 20 Sekunden vor seinem schwedischen Teamkollegen Thomas Lövkvist und dem Slowenen Janez Brajkovic.
Gerdemanns Höhenflug nach langer Verletzungspause - zuvor hatte er bereits die Tour de l'Ain und die Coppa Agostini gewonnen - kommt dem deutschen Profi-Radsport bestens zupass. Nach einem Wochenende, das vom angekündigten Rückzug des Aushängeschilds Gerolsteiner überschattet wurde, benötigt der krisengeplagte Sport Sympathieträger mit gutem Ruf. Und den hat Gerdemann spätestens seit seinem erfrischenden Auftritt bei der Tour de France 2007, als er mit einem Etappensieg ins «Maillot Jaune» gefahren war. «Linus zeigt, dass er bereit ist, Verantwortung für den deutschen Radsport zu übernehmen», lobte ihn Sportdirektor Rolf Aldag nach dem Columbia-Doppelerfolg.
Doch allzu lange wird Aldag wohl nicht mehr seine Freude an Gerdemann haben. Milram-Teamchef Gerry van Gerwen drängt vehement auf die Verpflichtung des Wahl-Schweizers aus Kreuzlingen, um endlich einen starken Kapitän für die großen Rundfahrten in seinen Reihen zu haben. Gerdemann wiederum erklärt - wie Sprint-Hoffnung Gerald Ciolek - gebetsmühlenartig, «für eine deutsche Mannschaft» fahren zu wollen. Als letztes «Bewerbungsschreiben» wollte er seinen Alleingang in den Tiroler Alpen indes nicht verstanden wissen.
Während sich die Verpflichtung von Gerdemann und Ciolek laut van Gerwen noch mindestens «vier Wochen» hinziehen wird, hält die Abwanderungswelle von Gerolsteiner zu Milram an. Johannes Fröhlinger und Matthias Ruß begleiten den zweifachen deutschen Meister Fabian Wegmann sowie ihren Sportdirektor Christian Henn nach Dortmund. Zudem unterschrieb der diesjährige Tour-Kapitän Christian Knees einen neuen Zweijahresvertrag, nachdem der Kontrakt mit dem Bremer Hauptsponsor Nordmilch AG per Option bis 2010 verlängert wurde. Van Gerwen ist trotz der Hängepartie um Gerdemann schon jetzt zufrieden: «Das wird eine Mannschaft, an der mein Herz hängen wird.»