Aurillac (dpa) - Bei den Buchmachern wird Cadel Evans als großer Tour-Favorit notiert, doch Columbia-Kapitän Kim Kirchen ist nicht nur bei Zockern längst mehr als ein Geheimtipp.
Der Luxemburger eroberte am Ende einer für ihn optimal verlaufenen ersten Woche der Tour de France das «Maillot Jaune» - und ist jetzt auch für das Evans-Team zum Konkurrenten Nummer 1 aufgestiegen. «Jetzt zählt Kirchen zu den Favoriten auf den Gesamtsieg, eine Entwicklung, mit der niemand gerechnet hätte», sagte Silence-Lotto-Teamchef Marc Sergeant nach Kirchens Fahrt ins Gelbe Trikot im Skiort Super-Besse, die allerdings nur durch das Sturzpech Stefan Schumachers möglich wurde.
Der 30-Jährige vom T-Mobile-Nachfolger Columbia bemühte auch gar nicht erst die üblichen Understatement-Floskeln. «Alles ist mit diesem starken Team möglich. Mein Fokus ist auf das Gelbe Trikot gerichtet», formulierte der in den vergangenen Jahren zum Top-Fahrer avancierte Kirchen seine Ziele. Ob er wirklich bereits auf Augenhöhe mit Evans ist, der von der «L'Équipe» vor der Tour als einziger Fahrer drei Sterne in der Favoriten-Klassifizierung zugewiesen bekam, wird sich wohl bereits bei der ersten schweren Bergetappe am Sonntag hinauf nach Bagnères-de-Bigorre zeigen. «Wir werden sehen, was in den Pyrenäen passiert, und ob ich mit den besten Kletterern mithalten kann», sagte Kirchen.
Dem Australier Evans, der nach der 6. Etappe in der Gesamtwertung als Zweiter die Winzigkeit von sechs Sekunden zurücklag, spielt Kirchens Spitzenposition perfekt in die Karten. Nun kann der vorjährige Tour-Zweite, der 2007 im Gesamt-Klassement nur 23 Sekunden auf den Spanier Alberto Contador verloren hatte, in aller Ruhe die starke Columbia-Crew die Führungsarbeit machen lassen. Da seine Silence-Lotto-Mannschaft ohnehin zu den eher schwächeren Teams zählt und er selbst am liebsten die diskrete Mitläufer-Rolle ausfüllt, lautet seine Devise: «Gelb so spät wie möglich.»
Bei den Wettanbietern hat Kirchens starke Auftaktwoche nichts an Evans' Pole Position geändert: Der frühere Mountainbiker lag am Freitag mit einer Quote zwischen 1,9 und 2,0 klar vorn. Noch hinter dem Spanier Alejandro Valverde und dem zweifachen Vuelta-Gewinner Denis Mentschow aus Russland wurde Kirchen nur auf Rang vier mit einer Quote zwischen 11 und 12 gelistet. Schumacher, dessen Ärger über die angebliche Schuld Kirchens an der Kollision kurz vor dem Ziel in Super-Besse langsam verflogen war, wurde nach dem unglücklichen Verlust des «Maillot Jaune» unter ferner liefen aufgeführt.
Der Münsteraner Linus Gerdemann, der nach einer schweren Knie- Verletzung erst im August wieder Rennen fahren will und Interesse am Milram-Rennstall bekundete, würde jedenfalls nicht alles auf seinen Columbia-Kollegen setzen. «Kirchen fährt bislang eine super Tour, aber ich glaube nicht, dass er am Ende in Paris ganz vorne sein wird. Das Schwerste kommt ja erst noch», sagte Gerdemann der Deutschen Presse-Agentur dpa.
Die meisten Experten jedenfalls trauen (noch) Evans bei den anstehenden Berg-Torturen und vor allem beim Zeitfahren nach Cérilly am vorletzten Tourtag mehr zu. Dann würde es der Australier, dessen Team für das Anti-Schnarch-Mittel «Silence» wirbt, aber nicht länger vermeiden können, auch optisch in die Rolle des ersten Anwärters auf den Gesamtsieg zu schlüpfen.