Roubaix (dpa) - Nach seinem grandiosen Sieg in Roubaix war John Degenkolb zu Tränen gerührt. Von den Gefühlen überwältigt rekapitulierte er seinen ersten Etappensieg in sechs Tour-Jahren:
«Das ist so emotional. Ich bedanke mich bei meiner Familie und meinem Team, die in den letzten zwei schweren Jahren nach meinem Unfall immer an mich geglaubt haben», sagte der Trek-Segafredo-Profi nach seinem Triumph im Ziel der neunten Etappe der 105. Tour de France. «Jetzt fliegen wir nach Ibiza», witzelte Degenkolbs Teamchef Steven de Jongh am Teambus und freute sich auf den ersten Ruhetag der Tour.
«Das ist das Schönste, was mir passieren konnte», schluchzte Degenkolb. Seine Karriere hing nach dem schweren Trainingsunfall im Januar 2016 am seidenen Faden. Der Sieger widmete diesen großen Erfolg einem im vergangenen Oktober verstorbenen Freund seines Vaters, der seine Radsport-Karriere von Beginn an begleitet hatte. Der knapp geschlagene Olympiasieger Greg Van Avermaet konnte seinen Vorsprung in der Gesamtwertung ausbauen.
Auch Konkurrent André Greipel gratulierte seinem Landsmann: «Das war eine starke Attacke - Glückwunsch. Ich selbst hatte zwei Stürze und zwei Radwechsel, aber wir sind ja hart im Nehmen», schilderte der Tagesachte die besonderen Umstände der 156,5 Kilometer langen neunten Tour-Etappe zwischen Arras und Roubaix.
Abseits vom nachdenklichen Degenkolb-Jubel kennzeichnete am Sonntag eine dramatische Sturz-Serie das Roubaix-Spektakel am zweiten Tour-Wochenende. Mitfavorit Richie Porte musste am Sonntag mit Verdacht auf Schlüsselbeinbruch aufgeben. Der schwer verletzte Tony Martin hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seine Heimreise angetreten.
Degenkolb gewann den Spurt des Trios, das sich auf der drittletzten Kopfsteinpflaster-Passage abgesetzt hatte, aus der ungünstigen Spitzenposition. Van Avermaet und dessen Landsmann Yves Lampaert hatten keine Chance gegen den diesmal superstarken Radprofi aus Oberursel.
Viele Fahrer gingen beim Roubaix-Wahnsinn über 21,7 Kilometer Buckelpiste zu Boden. Von den Topfavoriten kamen der ebenfalls gestürzte viermalige Toursieger Chris Froome, Tom Dumoulin, Vincenzo Nibali und Nairo Quintana (alle 27 Sekunden hinter Degenkolb) trotzdem am besten mit den widrigen Umständen zurecht. Mitfavorit Romain Bardet verlor dagegen im Kampf um das Gelbe Trikot durch drei Defekte Boden, genau wie der Spanier Mikel Landa durch einen Sturz.
Der Australier Porte musste wie 2017 die Tour vorzeitig verlassen. Bei einem Massensturz 37 Kilometer vor dem ersten Sektor des gefürchteten Kopfsteinpflasters schied der große Herausforderer des viermaligen Toursiegers Froome aus. Zu diesem Zeitpunkt war der am Vortag vor Amiens gestürzte Martin mit einem Rückenwirbel-Bruch schon auf der Heimreise.
«Weiterzufahren wäre nicht zu verantworten gewesen. Die Entscheidung fiel mir sehr schwer, die Roubaix-Etappe war eigentlich mein Tour-Highlight», sagte Martin. «Ich bin mit großer Geschwindigkeit auf Kopf und Rücken gefallen - mehr oder weniger ungebremst. Jetzt habe ich erstmal vier Wochen Fahrverbot». Sein WM-Start erscheint gefährdet.
Angesichts der puren Dramatik der neunten Etappe waren die Aufreger des Samstags - Stunk im Team von Marcel Kittel und die Jury-Bestrafung gegen Greipel - in den Hintergrund gerückt. Altmeister Greipel fand sich nur schwer mit seiner Zurücksetzung von Rang zwei auf Platz 92 wegen seines Gerangels mit dem drittplatzierten Fernando Gaviria im Schlussspurt der achten Etappe ab. In Amiens hatte der Niederländers Dylan Groenewegen seinen zweiten Etappensieg geholt.
Kittel, dessen Teamleitung ihm Egoismus und zu wenig Effektivität vorwarf, äußerte sich am Start in Arras Kittel nur kurz zum Trouble um seine Person: «So was sollte man intern klären und nicht über die Zeitung». Sein Manager Jörg Werner will am Ruhetag in Albertville in einem gemeinsamen Gespräch versuchen, die Gemüter zu beruhigen.
Der im Vorjahr wegen seiner Siegesserie von fünf Etappenerfolgen in Frankreich als «Le Kaiser» verehrte Thüringer hat nach vier Massensprints bei dieser Tour nicht mehr als Platz drei zum Auftakt in Fontenay-le-Comte vorzuweisen. Die Wortmeldung seines Teamchefs Torsten Schmidt («Ich hoffe, er fährt weiter») könnte sogar auf einen baldigen Ausstieg Kittels hindeuten.
Wahrscheinlich nur die Final-Etappe auf die Champs Èlysées böte ihm noch eine realistische Chance auf einen Etappensieg. In Paris siegte er 2013 und 2014.