Antwerpen (rad-net) - Während durch die Lockerungen der Coronamaßnahmen und der Veröffentlichung des neuen Rennkalenders die WorldTour-Teams derzeitig nach Orten für ihre Höhentrainingslager suchen, hat Victor Campenaerts sein Höhentraining bereits absolviert. Die belgische Zeitung «Het Nieuwsblad» hat berichtet, dass der Stundenweltrekordler während der Coronakrise ein Höhenexperiment über acht Wochen in den eigenen vier Wänden durchgeführt habe.
Campenaerts hat im März, nachdem bekannt geworden war, dass bis auf Weiteres keine Rennen stattfinden können, ein Experiment in Absprache mit seinem Trainer Kurt Lobbestael und dem Arzt Ruud van Thienen gestartet. Der 28-Jährige stellte ein Höhenzelt in seinem Schlafzimmer auf, um dort die erschwerten Bedingungen der Höhe zu simulieren. «Ich wollte meinen Körper testen, um zu sehen, ob dies im Vorfeld der Olympischen Spiele in Tokio einen Vorteil bringen könnte», erklärte der Belgier seine Motivation jetzt.
Vom 23. März bis Anfang April dauerte die Gewöhnungsphase, in der der Fahrer vom Team NTT Pro Cycling die Höhe in seinem Zelt von 2000 Meter auf bis 4600 Meter kontinuierlich erhöhte. Meist wird auf wesentlich niedrigerer Höhe trainiert, häufig im Bereich zwischen 1900 und 2500 Metern. Danach habe er anderthalb Wochen auf der Maximalhöhe geschlafen. «Es war sehr hart. Es gab kaum Sauerstoff, aber ich musste kaum trainieren: maximal acht Stunden pro Woche», erzählt Campenaerts in Nachhinein seiner Erfahrung.
Vom 13. bis 26. April hat der Belgier eine Ruhephase eingelegt, in der sich der Körper von dem Höhenreiz erholen sollte und in der er nur knapp 500 Kilometer die Woche trainierte. Bereits in dieser zweiten Phase des Experiments habe sich gezeigt, dass sein Körper die extreme Höhensimulation, gut verarbeitet habe, denn seine maximale Sauerstoffaufnahme habe nie unterhalb von 88 Prozent gelegen.
In der dritten Phase seines individuellen Höhentrainings hat Campenaerts sein Trainingspensum auf bis zu 900 Kilometer pro Woche aufgestockt, bevor er am 21. Mai eine finale Zeitfahrsimulation mit Louis Vervaeke (Alpecin-Fenix) in den Ardennen startete, um das Ergebnis des Experiments zu beurteilen. «Es war ein ziemlich schwieriger Kurs. Die ersten neun Kilometer waren flach und die letzten vier hatten eine Steigung von sechs Prozent. Ich bin ziemlich hart gefahren, denn Louis ist ein sehr guter Kletterer.»
Campenaerts erzielte in der Testfahrt nicht nur seine beste durchschnittliche Wattleistung in 20 Minuten, sondern brach auch den Rekord seiner funktionellen Leistungsschwelle (FTP), hochgerechnet auf eine Stunde, mit fast fünf Prozent mehr Leistung. «Ich kann sagen, dass dieses Höhenexperiment auf über 4000 Metern Wirkung gezeigt hat. Ich bin überzeugt, dass dieser Versuch auch einen positiven Effekt haben wird, wenn ich in den kommenden Monaten wieder Rennen fahren kann», bewertete der Fahrer die positiven Ergebnisse des Testlaufs und betonte das Experiment eventuell vor den Olympischen Spielen in Tokio 2021 wiederholen zu wollen.
Ob der ehemalige Europameister im Zeitfahren jedoch an den Spielen teilnehmen wird, steht noch nicht fest, obwohl Nationaltrainer Rik Verbrugghe das Finale des Höhenexperiments in den Ardennen live miterlebt hat. «Ich weiß seit langem, dass Victor zu großen Dingen fähig ist, wenn er sich lange und optimal vorbereiten kann», erzählte der Trainer im Anschluss des 20-minütigen Testlaufs, doch die Entscheidung über den Kader der Olympischen Spiele sei schwierig. Mit Fahrern wie Remco Evenepoel (Deceuninck-Quick Step) und Wout van Aert (Jumbo-Visma) gibt es weitere starke Kandidaten für das Olympia-Zeitfahren.
In dieser Saison will Campenaerts zunächst an der Polen-Rundfahrt (5. bis 11. August) teilnehmen, bevor er sich Tirreno-Adriatico (7. bis 14. September) und im Oktober den Giro d'Italia (3. bis 25. Oktober) zum Ziel gesetzt hat.