Varese (rad-net) - Der Italiener Alessandro Ballan ist neuer Straßen-Weltmeister. Der 28-Jährige setzte sich nach 260,25 Kilometern bei seiner Heim-WM in Varese vor seinem Landsmann Damiano Cunego durch und trat damit die Nachfolge von Paolo Bettini an. Der Däne Matti Breschel sicherte sich Bronze. Fabian Wegmann, der bis zum Schluss in der Spitzengruppe mitfuhr, erreichte als bester Fahrer des Bund Deutscher Radfahrer (BDR) am Ende seiner Kräfte das Ziel auf Platz sieben. „Ich glaube, die letzte Runde war die schwerste meines Lebens. Zum Schluss bin ich nur noch Delirium gefahren und habe versucht, irgendein Hinterrad zu erwischen. Ich wollte bei dem entscheidenden Angriff aus dem Sattel gehen, aber es ging einfach nichts mehr“, so der Münsteraner.
Erik Zabel hatte bei seiner letzten Weltmeisterschaft in der vorletzten Runde Defekt und ließ danach wichtige Kraft in der Verfolgungsarbeit: „Aber wenn und aber gibt‘s im Radsport nicht“, so Zabel. Endgültig chancenlos war der Altmeister, nachdem seine Gruppe um Paolo Bettini die Verfolgungsarbeit einstellte. Eine Aktion, für die er keine Erklärung abgeben wollte: „Keine Ahnung, was da los war.“
Auch Mitfavorit Stefan Schumacher konnte am Ende des Mammut-Rennens über 15 Runden nicht in die Entscheidung eingreifen. „Ich habe auf die letzte Runde gesetzt und damit falsch gepokert“, so der Schwabe. „Es war ein merkwürdiges Rennen. Ein komisches Gefühl, wenn man ins Ziel kommt, ohne einmal am Limit gewesen zu sein. Aber ich habe ja vorher gesagt, das Rennen wird schwierig einzuschätzen. Im Nachhinein war unsere Taktik jetzt ein Fehler. Aber man kann nicht bei jeder Gruppe mitfahren. Ich habe meine Körner gespart für die letzte Runde, aber da war das Rennen leider schon vorbei“, so der WM-Dritte des Vorjahres. „So musste Fabian für uns die Kohlen aus dem Feuer holen. Kompliment.“
Einzig Fabian Wegmann vertrat das Aufgebot des Bund Deutscher Radfahrer am Ende noch in der Spitze, konnte aber im Kampf um den Titel nichts ausrichten. „Ich habe auf den letzten drei Kilometern nochmals alles riskiert und hinten drangehangen, um vielleicht mit Schwung noch zu einer Medaille zu fahren, es war kein schneller Sprint, aber ich war nicht weit genug vorne“, so Wegmann. „Es kann nicht immer alles so laufen, wie man es will. Aber wenn man gewinnen will, muss man vorne mitgehen.“
Für seine Leistung gab es größte Komplimente aus dem Team: „Fabian ist absolut stark gefahren“, so Jan Schaffrath, an der Seite von Hans-Michael Holczer Sportlicher Leiter des BDR-Teams. „Fabian sollte im Finale mitspringen, das hat er gemacht, wie er es sollte. Vielleicht sogar etwas zu früh. Und wir hatten ja noch die Karte Schumacher, aber die hat leider nicht gestochen. Ich denke, Platz sieben war das Optimum heute“, so Schaffrath. „Die Körner, die Fabian schon etwas zu früh verschießen musste, haben ihm am Ende gefehlt. Auch die anderen sind super gefahren, Knees ist super in die Lücken gesprungen. Schade, dass Erik Zabel im entscheidenden Moment Defekt hatte, das hat nochmals Körner gekostet.“
Körner, von denen Fabian Wegmann im Ziel keins einziges mehr übrig hatte. Minutenlang saß der Deutsche Meister an der Absperrung gut 200 Meter hinter der Ziellinie und trank gleich mehrere Flaschen Fasser aus, bis er mit dem Rad zum Teambus rollte. „Heute musste man vorneweg fahren, das war heute nicht das erwartete Ausscheidungsfahren“, so Wegmann. „In der letzten Runde hatte ich Krämpfe. Ich wäre gerne mitgefahren, als Ballan angegriffen hat. Aber es ging einfach nicht.“
Bis ins Finale hatte die deutsche Mannschaft alles unter Kontrolle. Gemeinsam mit den anderen Top-Teams ließ man zunächst eine dreiköpfige Außenseitergruppe gewähren, die zwischenzeitlich fast 20 Minuten Vorsprung herausfahren konnte. Unter Initiative der Italiener schmolz der Vorsprung im Finale aber schnell. Dreieinhalb Runden vor Schluss waren sie mit ihren Kräften nach fünfstündiger Alleinfahrt unter der strahlenden Herbstsonne am Ende, nachdem sich zum ersten Mal die Top-Teams mit einer bedeutenden Tempo-Verschärfung gemeldet hatten. Danach folgte ein Angriff dem nächsten. Immer wieder setzten sich kleine Gruppen ab, wobei sich dreimal Wegmann hervortat. Sechs Fahrer fuhren auf dem winkligen Stadtkur auf die letzte Runde mit 15 Sekunden Vorsprung auf das Feld. Die Spitzengruppe vergrößerte sich zehn Kilometer vor dem Ziel auf 14 Profis, die den Sieg unter sich ausmachten.
„Am Anfang haben wir uns gegenseitig neutralisiert, die Spanier, die Italiener und wir“, so Sebastian Lang. „Als die Italiener Gas gegeben haben, wollten sie mich wohl ärgern. Genau da hatte ich Defekt gehabt und musste erstmal voll hinterher fahren. Irgendwann waren dann die Beine leer. Aber ich war für den Anfang des Rennens eingeteilt und bin bei Kilometer 210 raus gegangen, da kann man ja schon nicht mehr von Anfang sprechen“, so der Zeitfahr-Spezialist.
Im Rahmen des Rennens hatte in Varese vor nach Schätzungen der Deutschen Presse Agentur (dpa) 500.000 Zuschauern zwei große Radsportler Abschied genommen. Der 38-jährige Erik Zabel stellt sein Rad am 12. Oktober nach Paris-Tours in die Ecke. Der zweifache Weltmeister und Olympiasieger von Athen, Paolo Bettini, der am Vortag überraschend seinen Rücktritt erklärt hatte, fuhr in Varese sein letztes Rennen. Dabei verpasste der 34-jährige Italiener als Titelverteidiger und eigentlich ausgemachter Topfavorit den angepeilten Rekord, als erster Profi drei Titel in Serie zu holen. Die beiden Routiniers hatten mit der WM schon zu Beginn der letzten Runde abgeschlossen und schüttelten die Hände vieler Kollegen. Beide erreichten das Ziel - Bettini jubelte, als wenn er erneut Weltmeister geworden wäre - mit 4:57 Minuten Rückstand auf Ballan.
Auch ohne weitere Medaille im Rennen der Profis waren die Straßen-Weltmeisterschaften in Varese mit fünf Mal Edelmetall für den BDR die erfolgreichsten der vergangenen Jahre. „Nicht nur von der Anzahl der Medaillen war es eine der erfolgreichsten Weltmeisterschaften der letzten Jahre. Gefreut haben mich die vielen Top-Platzierungen, die unsere Sportler errungen haben und die das Ergebnis einer großartigen Mannschaftsleistung sind“, zog Rudolf Scharping, Präsident des Bund Deutscher Radfahrer in Varese eine erste Bilanz.
Eindrucksvoll war auch die Stimmung an den Weltmeisterschafts-Tagen in Norditalien. „Es war unglaublich, die standen überall in Fünfer- oder Sechserreihen“, so Marcus Burghardt.
Die deutschen Fernsehzuschauer, die das Rennen im öffentlich-rechtlichen Programm der ARD verfolgen wollten, blieben dagegen zum Finale der Weltmeisterschaften außen vor. Der Sender blendete sich rund vier Kilometer vor dem Ziel aus der Live-Übertragung aus und überließ das Feld damit dem Spartensender Eurosport.