Turin (dpa) - Das Lebensalter nimmt zu, die Ziele werden kleiner. Auch für Lance Armstrong, gerade für Lance Armstrong.
«Er hat sich gut verteidigt», sagt anerkennend der Kommentator des italienischen Fernsehens RAI, als der prominente Rückkehrer mit nur 20 Sekunden Rückstand auf die Gruppe um Ivan Basso und Levi Leipheimer die 416 Höhenmeter hoch zum kleinen Vorstadtberg Pra Martino bewältigt. 20 Sekunden auf den Giro-Favoriten Basso sind nicht schlecht. Pech nur, dass etwa 20 Sekunden vor Basso noch eine Gruppe mit den anderen Favoriten Carlos Sastre, Denis Mentschow und Danilo di Luca über den Hügel marschierte.
Armstrong sitzt im dritten Waggon des Giro-Zugs. Er ist nicht mehr der Lokführer des Pelotons. Er ist allenfalls der prominenteste Fahrgast im Abteil. Der 37-jährige Texaner hat sich mit seiner neuen Rolle abgefunden. Äußerlich jedenfalls. Er lächelt gelöst, als er in Pinerolo den Zielstrich überquert. Die 20 Sekunden auf Basso & Kollegen hat er auf der Abfahrt noch wettgemacht. Da hat er jenen kleinen, schnellen, hochfrequenten Tritt gezeigt, den man aus Frankreich von ihm kennt. Ex-Weltmeister Paolo Bettini lobt ihn deswegen. «Bei den meisten wird der Tritt schwerer, wenn sie älter werden. Bei Lance nicht. Respekt.»
Bettini hat freilich unterschlagen, dass Armstrong seinen Nähmaschinen-Tritt bei der Tour de France auch bergauf zeigte. Beim Giro hat man ihn bislang nur bergab gesehen. Immerhin - die Form wächst. Hatte er sich auf der Seiser Alm noch knapp drei Minuten von Mentschow und Di Luca abnehmen lassen, so waren es in den Meeralpen nur 19 und 29 Sekunden. Auch sein Gesicht sieht wieder wie das eines Enddreißigers aus. Armstrongs Videobotschaft vom Ruhetag zeigte einen erschöpften und zerfurchten Mann, der mindestens ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel zu tragen schien.
«Ich bin zufrieden mit seiner Leistung», meint Astana-Teamchef Johan Bruyneel. «Vielleicht hat er sich nach der guten Vorstellung beim Team-Zeitfahren in Venedig insgesamt mehr erhofft. Er ist ein großer Champion, der den Wettkampf gewohnt ist. Aber es ist schon ein kleines Wunder, dass er nach seiner Verletzung Ende März überhaupt an den Start gekommen ist. Jetzt ist es wichtig, dass er sich den Leistungen der Besten annähert», sagt Bruyneel und blickt voraus: «Ich erwarte nicht, dass er bei diesem Giro noch ein super Resultat erzielt, aber ich wäre glücklich, wenn es passierte.»
Den Konjunktiv benutzte Bruyneel in früheren Jahren in Sachen Armstrong äußerst selten. Jetzt ist er üblich, wenn es um Leistungen, Form und Erfolgsaussichten des Mannes aus Austin geht. Dass Armstrong beim Zeitfahren durch die Cinque Terre am 21. Mai die Konkurrenz pulverisiert, glaubt Bruyneel offiziell nicht. Ausgeschlossen ist ein Ausschlag nach oben bei dem Texaner aber nicht. Denn in ihm kocht es. Er regt sich darüber auf, dass die Presse ihm eine größere Rolle beim Bummelstreik in Mailand zuschreibt, als er selbst sich zugesteht.
Auch das Verhältnis zu Giro-Direktor Zomegnan hat sich abgekühlt. Armstrong bläst der Wind ins Gesicht, er fährt auch in Italien um seine Zukunft. US-Sponsoren, die für die zahlungsmüden Astana-Geldgeber einspringen könnten, investieren in Happy-End-Geschichten, nicht in müde auslaufende Karrieren. Gut möglich, dass sich die Finanz-Probleme mit Astana bei der Tour wiederholen. Mit einem Aufwind aus Dollarnoten steht man solch einen Seiltanz besser durch.